Grundlagen der Neuraltherapie

Dr. Bernhard Ost

Physiologische Schmerzentstehung
Wird ein Nerv von einem schädigendem Agens getroffen, so lockern sich die Grenzflächen auf und werden erhöht durchlässig. Als Folge davon treten Kaliumionen aus der Nervenfaser aus und Natriumionen dingen in sie ein.
Mit dem Kaliumverlust gleicht sich die Ionenkonzentration aus, – d.h. das Grenzflächenpotential bricht zusammen und der Nerv entlädt sich. (Depolarisation). Jede Senkung des Membranpotentials löst in einem schmerzleitenden Nerven Schmerzen aus. (via Rückenmark, Hirnstamm und Großhirnrinde). Der Schmerzsinn registriert und kontrolliert also den elektrischen Ladungszustand der Zellgrenzflächen. Alle Gewebsprodukte, die bei der Schmerzentstehung als chemische Zwischenglieder in Betracht gezogen werden, wie H-Ionen, Histamin, Serotonin und Ca-entionisierende Säuren haben eine gemeinsame Eigenschaft. Sie wirken depolarisierend und Alles was pepolarisiert, erzeugt auch Schmerzen.

Unterschiedliche Lokalanästhetika
Es gibt zwei unterschiedliche Substanzgruppen – die Aminoamide und die Aminoester.
Da bei einer Neuraltherapie nicht die Wirkdauer eines Lokalanästhetikums von Bedeutung ist, sondern ausschließlich der Effekt, kommen eigentlich aus beiden Substanzgruppen nur Produkte mit möglichst geringer Toxizität in Frage, — das ist in der Aminoamidgruppe das Lidocain und für die Estergruppe das Procain. 
Beide Substanzen werden unterschiedlich verstoffwechselt. Die Aminoester werden durch Hydrolisierung gespalten und dabei entstehen als Metaboliten Parahydroxybenzoesäuren, welche gelegentlich allergische Reaktionen auslösen können. Die Aminoamide werden hepatisch metabolisiert. Dabei entstehen teilweise aktive Metaboliten. Diese werden überwiegend durch Einführung einer Hydrxylgruppe an Gluconsäure gebunden und dann wasserlöslich und nierengängig renal eleminiert.

Wirkungsweise der Lokalanästhetika
Lokalanästhetika verhindern durch Interaktion mit den Natriumkanälen an der inneren Nervenzellmembran eine Depolarisation und unterbrechen so die Reizleitung. Es kommt zu einer temporären Hyperpolarisation der Nervenzelle (Anodenblock). Eine normale Nervenzelle hat ein messbares elektrisches Membranpotential von 40 bis 90 Millivolt. Ein Lokalanästhetikum hat ein durchschnittliches elektrisches Potential von ca. 290 Millivolt. 
Ein Lokalanästhetikum bewirkt durch Hyperpolarisation einen Anodenblock und damit eine temporäre Unerregbarkeit des Nerven für die Dauer der Wirkungszeit. In dieser Ruhephase kann sich ein irritierter Nerv wieder auf ein Normalpotential einstellen. Der Schmerz ist dann beseitigt oder gemindert. Eine Schmerzreduktion spricht für das Ansprechen der Neuraltherapie. Wiederholungsinjektionen sollten dann vorgenommen werden.

Pharmakodynamik der Lokalanästhetika
Das Lokalanästhetikum muss durch Bindegewebshüllen (Epi-, Peri-, und Endoneurium) die Nervenfortsatzmembran durchdringen. Die minimale Blockadekonzentration eines Lokalanästhetikums ist die Menge pro Volumeneinheit, die benötigt wird, um die Impulsweiterleitung im Nerven zu unterbrechen. Dicke und dünne myelinisierte Nerven benötigen fast dieselbe Konzentration. Es ist also falsch, zu behaupten, dass dünnere oder nicht myelinisierte Nerven empfindlicher auf ein Lokalanästhetikum reagieren.
Der Natriumkanal der Nerven liegt in verschiedenen Zuständen vor, – geschlossen, offen oder inaktiviert. Das Lokalanästhetikum bindet bevorzugt an offene oder inaktivierte Kanäle. Im Ruhezustand diffundiert es wieder ab. Diese Mechanismen werden zur Erklärung der Kardiotoxizität herangezogen, spielen aber für die klinische Anwendung und Wirkung von Lokalanästhetika keine Rolle.
Mit der Injektion des Lokalanästhetikums beginnt schon das Abfluten vom Injektionsort in die systemische Zirkulation. Die Höhe des Seerumspiegels hängt vom Ausmaß der Vaskularisation des Injektionsortes ab( z.B. Tonsillen).

Cave: immer aspirieren, damit nicht versehentlich intravasal gespritzt wird.

Nebenwirkungen
Nebenwirkungen rekrutieren aus zu hohen Plasmakonzentrationen in der systemischen Zirkulation. Es werden dann auch die Ionenkanäle des Herzens, ZNS und der Gefäßmuskulatur beeinflusst.
Allergische Reaktionen können durch den Metaboliten der Aminoester, – der Paraaminobenzoesäure ausgelöst werden. Bei Aminoamiden treten allergische Reaktionen sehr selten auf und sind eher auf Hilfsstoffe zum Stabilisieren und Konservierungsstoffe zurückzuführen.
Bei Patienten mit Allergiepass und besonders bei Sulfonamidallergie sollte ein Konjunktival- Provokationstest durchgeführt werden. Ebenso bei Schwangeren und allen Patienten, die sich schon als überempfindlich präsentieren.
Vorübergehende leichte Lähmungserscheinungen einzelner Muskelbereiche sind möglich und halten nicht länger als die Wirkdauer des Lokalanästhetikums an.
Erstverschlimmerungen sind möglich, aber selten.

Ideales Lokalanästhetikum
Das ideale Lokalanästhetikum für eine Neuraltherapie sollte folgende Eigenschaften haben:
•Keine systemische Toxizität
•Selektive Wirkung
•Differenzialblockade
•Schnelle Anschlagzeit
•Gute Wirkdauer
•Reversibilität bzw. keine Neurotoxizität
Empfehlung: Procain oder Lidocain

Neuraltherapie und Störfelder
Jede Krankheit kann im Segment neural blockieren bzw. störfeldbedingt sein. Sie muss es aber nicht sein. Einige Krankheitsbilder können nach einer gewissen, individuell unterschiedlichen Zeit autonom werden. So kann z.B. eine ursprünglich tonsillogene Polyarthritis plötzlich von ihrem Ursprung unabhängig werden und ihren eigenen Gesetzen nachgehen. Von diesem Zeitpunkt an versagt die Tonsillektomie ebenso wie die Neuraltherapie an die Mandelpole.
Neuraltherapie ist nicht nur Therapie, sondern auch Diagnostik.
Die erfolgreiche Injektion am richtigen Ort auf Grund einer guten Verdachtsdiagnose ist beweisend für die Diagnose. Ansonsten hat sich nach Ausklingen der Wirkdauer des Lokalanästhetikums nichts am Beschwerdebild geändert. Neuraltherapeutische Maßnahmen können naturgemäß nur auf Störungen Einfluss nehmen, die neural bedingt sind oder bei denen zumindest ein neuraler Faktor entscheidend mitspielt.
Neuraltherapie ist als Regulationstherapie eine Ganzheitstherapie. Jede Stelle des Körpers kann zum Störfeld werden. Eine ideale Form einer Störfeldsuche ist u.A. die TRD (Thermoregulationsdiagnostik).
Das berühmte Sekundenphänomen nach Huneke wird wie folgt definiert:
Alle, vom Störfeld ausgelösten Fernstörungen müssen, soweit anatomisch möglich, in der Sekunde der Injektion 100%ig verschwinden. Völlige Symptomfreiheit muss von den Zähnen ausgehend, mindestens acht, von allen anderen Stellen aus mindestens zwanzig Stunden anhalten.

Jeder Einsatz eines Lokalanästhetikums im Sinne einer Neuraltherapie setzt eine umfassende Schmerzanamnese voraus um mit möglichst wenigen Injektionen und möglichst wenig Milliliter eines Lokalanästhetikums auszukommen und eine optimale Wirkung zu erzielen.
Jede unkontrollierte oder wahllose Applikation eines Lokalanästhetikums erhöht die systemische Zirkulation und damit das Potential an kardiologischen oder neurologischen Nebenwirkungen und mindert den Erfolg einer echten Neuraltherapie.